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Es gibt klinische Bilder und Beschwerden, wegen denen Menschen üblicherweise nicht sofort die Zahnarztpraxis aufsuchen, weil sie nicht als akut wahrgenommen und von dringenderen Problemen überlagert werden können. Doch nicht nur Zahnhalskaries, sondern auch Säureschäden, Gingivitis, Rezessionen und daraus resultierende Dentinhypersensibilität bedürfen zahnärztlicher Beratung und Intervention. Oftmals können sie durch Verhaltensänderungen im Alltag der Patienten/-innen vorgebeugt oder abgemildert werden.
Eine 2025 veröffentlichte epidemiologische Querschnittsstudie nahm die Häufigkeit von nicht-kariösen Zahnhalsläsionen in neun stratifizierten Altersgruppen von 18 bis 89 Jahren unter die Lupe. Sie ist die größte ihrer Art in Europa und wurde in sieben Ländern (Deutschland, Schweiz, Italien, Portugal, Spanien, Irland und Großbritannien) durchgeführt. Die Autoren/-innen berichten, dass die Prävalenz der untersuchten Beschwerdebilder höher war als in den meisten bisher dazu veröffentlichten Studien: Das Vorliegen von Dentinhypersensibilität an mindestens einem Zahn (definiert als Schiff-Score ≥ 1) wurde bei 75,9% der Teilnehmer/-innen beobachtet, erosiver Substanzverlust an mindestens einem Zahn (definiert als BEWE (Basic Erosive Toothwear Examination) -Index ≥ 1) betraf 97,6%, wobei der Großteil der Teilnehmer/-innen (72,1%) einen moderaten oder schweren Substanzverlust aufwiesen (BEWE 2/3).

Gingivarezessionen mit ≥ 1 mm Tiefe an mindestens einem Zahn lagen bei 87,9% der Teilnehmer/-innen vor, eine generalisierte Gingivitis (Sondierungsbluten an > 30% der sondierten Stellen) bei 37%. Überempfindlichkeiten waren signifikant mit Gingivarezessionen und erosiven Hartsubstanzverlusten assoziiert (p < 0,01). Alle drei Beschwerdebilder nehmen im jungen Erwachsenenalter deutlich zu. Während Rezessionen und Substanzverluste jedoch mit Fortschreiten des Alters weiter steigen, kehrt sich der Trend für die Dentinüberempfindlichkeit ab der Altersgruppe der 48- bis 57-Jährigen wieder um.

Prof. Raluca Cosgarea (Abb.1) und Prof. Søren Jepsen (Abb. 2) von der Poliklinik für Parodontologie, Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde in Bonn, die die Datenerhebung für Deutschland leiteten, standen im nachfolgenden Experteninterview Rede und Antwort zum Studienaufbau, zu den wichtigsten Erkenntnissen und therapeutischen Konsequenzen sowie den Möglichkeiten der praktischen Umsetzung.
Frau Prof. Cosgarea, Herr Prof. Jepsen, warum halten Sie es für wichtig, das Ausmaß der nicht-kariösen Beschwerdebilder in der Bevölkerung zu erfassen?
Aus wissenschaftlicher Sicht sind epidemiologische Daten immer wichtig, weil auf ihrer Basis weitere Studien zu Therapien, Ursachen und Prävention aufgebaut werden können. Die Daten können möglicherweise auch zeigen, wie sich die Präventionsstrategien der vergangenen Jahre ausgewirkt haben und an welchen Stellschrauben noch gedreht werden kann.
Im Grunde möchten wir feststellen, wie häufig Probleme vorkommen. Wenn sich die Probleme häufen, müssen wir uns fragen: „Was können wir vorbeugend tun, und wie können wir Patienten/-innen helfen, die schon betroffen sind?“ Letztlich geht es auch um Gesundheitsökonomie: Wo ist Geld für Prävention am besten investiert?
Was braucht es, um als Studienzentrum an einer solchen Studie teilzunehmen?
Studien dieser Größenordnung finden nicht häufig statt, das ist auch für uns etwas Besonderes. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass genügend Patienten/-innen eingeschlossen werden können. Deshalb muss es eine große Abteilung mit hohem Patientenaufkommen sein: Zu uns kommen täglich rund 150 Patienten/-innen.
Die größte Herausforderung für eine Studie dieser Art ist aber die Finanzierung. Die externe Finanzierung erlaubte die Freistellung der Studienärzte/-innen von ihren täglichen Aufgaben in der Klinik, um sich der Untersuchung von Patienten/-innen für die Studie widmen zu können. Im Klinikalltag wäre dies ansonsten nicht zu bewerkstelligen.
Welche Parameter wurden in der Studie untersucht?
Mittels Fragebogen wurden Themen wie Lebensqualität, Zahnputzgewohnheiten, Ess- und Trinkgewohnheiten, die Häufigkeit des Konsums saurer Lebensmittel, Raucherstatus etc. abgefragt. Danach wurden die Untersuchungen durchgeführt: Für Dentinüberempfindlichkeit haben wir den Schiff-Score und den Stimulus-Test mit dem Luftpüster verwendet, bei dem wir auf ärztlicher Seite die Reaktion der Patienten/-innen codiert erhoben haben.
Zudem wurde von den Patienten/-innen auch dichotom abgefragt, ob der Reiz subjektiv Schmerzempfindlichkeit auslöst (ja/nein). Als Maß für den Grad der erosiven Defekte wurde der BEWE-Index verwendet. Die Sondierungstiefen und gingivale Rezessionen wurden außen mittig am Zahn an einer Stelle gemessen, und es wurde auch die Blutung auf Sondierung als Zeichen für die Zahnfleischgesundheit untersucht.
Halten Sie die Parameter für geeignet, um die verschiedenen Problematiken abzubilden?

Insbesondere der Schiff-Score und der BEWE-Index werden üblicherweise in der Praxis ausschließlich bei Patienten/-innen mit ausgeprägten Problematiken eingesetzt. Wir sind der Meinung, dass man durchaus darüber nachdenken sollte, sie umfangreicher in den Unterricht der Studierenden aufzunehmen. So könnten die zukünftigen Zahnärzte/-innen bei ihren Patienten/-innen darauf zurückgreifen.
Die Erhebung des Schiff-Scores ist zeitaufwändig und sicher nicht für jeden/jede Patienten/-in notwendig. Wir halten sie aber für sinnvoll bei denjenigen, die ständig über Empfindlichkeit klagen, da der Score einen objektiven Maßstab für den Erfolg einer Therapie (z.B. einer zu Hause verwendeten Sensitiv-Zahnpasta) liefern kann.
Welche sind die für Sie überraschendsten Erkenntnisse aus der Studie?
Es ist bemerkenswert, dass die Mehrheit der Patienten/-innen, nämlich rund 65% in Deutschland und rund 75% in der Gesamtpopulation, mindestens einen Zahn mit einer Überempfindlichkeit hat. Das ist sehr viel. Überraschend war der Befund, dass der Höhepunkt der Dentinüberempfindlichkeit im Alter zwischen 38 und 47 Jahren auftritt und danach wieder abnimmt.
Es wird allgemein eher angenommen, dass jüngere Menschen empfindlicher sind, da die Zahnhalsdefekte dann noch frisch sind. Eine mögliche Erklärung für den unerwartet späten Höhepunkt der Überempfindlichkeit ist die Zunahme der Defekte mit der Zeit. Auch die Gingivarezessionen schreiten mit dem Alter voran und erhöhen so die Anzahl von Defekten. Ein Grund für die Abnahme der Empfindlichkeit mit dem höheren Alter kann die Bildung von Sekundärdentin im Bereich der Pulpa sein: ein natürlicher Abwehrmechanismus des Körpers.
Was sollte Ihrer Meinung nach mit den Ergebnissen geschehen?
Sie sollten nicht nur auf Fachkonferenzen und an Universitäten verbreitet werden, sondern auch in die zahnärztlichen Praxen gelangen. Das Praxispersonal soll dadurch ermutigt werden, die Patienten/-innen proaktiv auf Schmerzempfindlichkeit oder Schmelzdefekte anzusprechen, um zielführende Therapieansätze bieten zu können und zusätzlich auch Beratung für häusliche Mundhygiene und Ernährung bereitzustellen.
Es wäre wünschenswert, dass sich daraus Behandlungsleitlinien mit konkreten Empfehlungen für die Praxis ableiten ließen: Reicht die tägliche Verwendung einer Spezialzahnpasta zuhause aus, oder muss eine chirurgische Rezessionsabdeckung erfolgen? Welche Verhaltensänderung wäre von Vorteil? Das sind Fragen, zu denen Handlungsempfehlungen für das Praxisteam sowie für die betroffenen Patienten/-innen Antworten liefern könnten. Wir sehen, dass nicht-kariöse Zahnhalsdefekte ein häufiges und ernstzunehmendes Problem sind, und dass die Behandlung dieses Problems bisher zu kurz gekommen ist.
CME-zertifiziertes Webinar zum Thema

Im mit 3 CME-Punkten akkreditierten Fortbildungs-Webinar „Zahnfleischrückgang, Säureschäden, Sensibilität: Was gibt es Neues?“ sprechen Prof. Søren Jepsen und Prof. Raluca Cosgarea von der Universität Bonn über die in diesem Artikel vorgestellten neuen epidemiologischen Daten, sowie über Diagnostik und Therapie der verschiedenen Problematiken am Zahnhals. Das Webinar steht kostenfrei bis Mai 2026 auf dem Fachportal HaleonHealthPartner zur Verfügung.
Quelle:
Haleon
www.haleonhealthpartner.com/de-de
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