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Forschen, Erinnern, Verantwortung Übernehmen:

Zahnärzteschaft blickt kritisch auf ihre NS-Vergangenheit

Verleihung des Hans-Türkheim-Preises und Veröffentlichung des Lexikons „Zahnärzte und Kieferchirurgen im Dritten Reich und in Nachkriegsdeutschland"

Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen. DGZMK / Jonas Güttler
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.
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Mit einer Gedenkveranstaltung in Berlin erinnerte am 29.10.2025 die deutsche Zahnärzteschaft an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und bekannte sich zu ihrer historischen Verantwortung. Vertreter der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) betonten die Bedeutung einer offenen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Aufarbeitung als Verpflichtung

Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstands der KZBV, mahnte, dass es nicht nur um historische Fakten und Erinnerung gehe, sondern auch um Haltung: „Diese Aufarbeitung ist mehr als Rückschau – sie ist Verpflichtung. Wir stehen als Berufsstand in der Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen und uns jeder Form von Antisemitismus, Ausgrenzung und Menschenverachtung entschieden entgegenzustellen.“

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, betonte in seiner Rede die Bedeutung der Veranstaltung als klares Zeichen der Verantwortung und der lebendigen Erinnerungskultur. Die historische Aufarbeitung habe gezeigt, wie tief die Verstrickungen der Zahnmediziner reichten. Aufarbeitung sei aber nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern auch Erneuerung. „Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wofür er steht,“ sagte Klein und betonte, wie wichtig die mittlerweile vollzogene Implementierung von medizinhistorischer Lehre über die Rolle der Zahnärzteschaft in der NS-Zeit für Studierende der Zahnheilkunde ist.

Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.DGZMK / Jonas Güttler
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.
Christoph Benz, Präsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Christoph Benz, Präsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), spricht.
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.
Peter Proff, Präsident elect der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), sprichtDGZMK / Jonas Güttler
Peter Proff, Präsident elect der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), spricht
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.DGZMK / Jonas Güttler
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Nico Biermanns, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen.
Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, spricht.
Jörg Wiltfang (r), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), und Kay Lutze (m), Historiker und Nachfahre von Verfolgten, überreicht den Hans-Türkheim-Preis an Lisa Bitterich, Preistägerin des Hans-Türkheim-Preises.DGZMK / Jonas Güttler
Jörg Wiltfang (r), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), und Kay Lutze (m), Historiker und Nachfahre von Verfolgten, überreicht den Hans-Türkheim-Preis an Lisa Bitterich, Preistägerin des Hans-Türkheim-Preises.
Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), sprichtDGZMK / Jonas Güttler
Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), spricht
Jörg Wiltfang, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Jörg Wiltfang, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), spricht.
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Felix Klein (l), Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, und Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) (m).DGZMK / Jonas Güttler
Leon Weintraub (r), Überlebender des Holocaust, im Gespräch mit Felix Klein (l), Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, und Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) (m).
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.DGZMK / Jonas Güttler
Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Aachen, spricht.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, hält eine Grußbotschaft per Video.DGZMK / Jonas Güttler
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, hält eine Grußbotschaft per Video.

Respekt für klare Worte und Verantwortung

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, dankte in einer Video-Botschaft Professor Dominik Groß von der RWTH Aachen für „seine unermüdliche Initiative, wissenschaftliche Präzision und Hartnäckigkeit“. Dass sich die organisierte Zahnärzteschaft mehr als 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus ihrer eigenen Verantwortung stelle, verdiene Respekt. Sie begegne der Tatsache, dass sich Teile des Berufsstandes seinerzeit zu Handlangern des NS-Terrorregimes gemacht haben, „nicht mit Floskeln oder Alibis, sondern mit klaren Worten, mit Forschung und mit öffentlicher Erinnerung“. Das sei alles andere als selbstverständlich.

Aufarbeitung der Verstrickungen der Zahnärzteschaft in das NS-Unrechtssystem

Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus – ein Thema, das lange als blinder Fleck der Medizingeschichte galt. Erst das von den drei Spitzenorganisationen geförderte und von Wissenschaftlern der RWTH Aachen und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführte Forschungsprojekt „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ (2016–2019) machte sichtbar, wie tief der Berufsstand in das NS-Unrechtssystem verstrickt war und wie viele Kolleginnen und Kollegen zugleich Opfer von Entrechtung und Verfolgung wurden.

Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts wurden bereits im Jahr 2019 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von KZBV, BZÄK und DGZMK vorgestellt. Als Konsequenz der Erkenntnisse hat die DGZMK unter anderem Preise und Medaillen umbenannt. Das Thema Zahnmedizin im Nationalsozialismus wird inzwischen in der Umsetzung der neuen zahnärztlichen Approbationsordnung an den Universitäten gelehrt. Die drei Organisationen verpflichteten sich, die weitere historische Forschung und Aufarbeitung institutionell und finanziell zu unterstützen. Mit dieser Anschubfinanzierung ist 2019 das mehrbändige Lexikonprojekt gestartet.

Ein Herzensprojekt gegen das Vergessen

Die im Rahmen des Forschungsprojektes dokumentierten Biografien von Tätern, Mitläufern und Opfern unter den Zahnärzten während der NS-Zeit erscheinen in einem auf acht Bände ausgelegten Personenlexikon. Nach den ersten drei Bänden (2022, 2023 und 2024) wurde anlässlich der Gedenkfeier der vierte Lexikonband präsentiert. Für Professor Dr. mult. Dominik Groß, Autor des mehrbändigen Lexikons, ist dieses Projekt „eine echte Herzensangelegenheit“, der er sich seit rund 15 Jahren widmet. Allein der vierte Lexikonband umfasst über 1.300 Seiten und enthält 640 weitere Biografien. Das Lexikonprojekt führt mit seiner Fertigstellung zu dem umfassendsten Nachschlagewerk der NS-Aufarbeitung einer Berufsgruppe.

Dr. Leon Weintraub kam zum Zeitzeugen-Gespräch nach Berlin

Ein eindrucksvoller Moment der Gedenkfeier war das Gespräch zwischen dem Zeitzeugen Dr. Leon Weintraub und Dr. Nico Biermanns von der RWTH Aachen. Der in Polen geborene Weintraub berichtete von seinen Erlebnissen während der NS-Zeit. Im Jahr 1940 wurde er gemeinsam mit seiner Familie von den Nationalsozialisten in das Getto Litzmannstadt zwangsweise umgesiedelt, wo er als Elektriker Zwangsarbeit leisten musste. Später war er in mehreren Konzentrationslagern inhaftiert.

Trotz der schrecklichen Erfahrungen fand Weintraub die Kraft, weiterzuleben. Nach dem Krieg studierte er – ausgerechnet in Deutschland – Medizin in Göttingen. Anschließend arbeitete er in Warschau als Gynäkologe, bevor er Ende der 1960er-Jahre nach Schweden auswanderte. Trotz zahlreicher Schicksalsschläge gelang es ihm stets, den Blick nach vorn zu richten und sich nicht von den erlebten Grauen bestimmen zu lassen.

Am Ende des Dialoges und stehendem Applaus für Dr. Weintraub formulierte er eine Friedensbotschaft: „Was ist unsere Erde mehr als ein Stäubchen im Weltall. Und auf diesem Stäubchen die Einwohner in Gruppen zu unterteilen, ist absurd. Wir sind alle als Menschen geboren. Lasst uns in Frieden und Wohlwollen miteinander leben.“

Auszeichnung für historische Forschung

Im Rahmen der Veranstaltung wurde außerdem erstmals der Hans-Türkheim-Preis verliehen, den die DGZMK für herausragende wissenschaftliche Arbeiten zum Themenfeld „Zahnheilkunde und Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus“ stiftet. Namensgeber des Preises ist der in Hamburg geborene, jüdische Hochschullehrer Hans Türkheim, der aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1936 nach Großbritannien fliehen musste und in London eine private Zahnarztpraxis eröffnete.

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Preisträgerin ist Dr. med. Lisa Bitterich von der RWTH Aachen, die in ihrer kumulativen Promotion vier international beachtete Studien veröffentlichte – unter anderem über das Verhältnis zahnärztlicher Hochschullehrer zum Nationalsozialismus.

DGZMK-Präsident Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang würdigte die Preisträgerin und ihre Arbeit als wichtigen Impuls für die fortlaufende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Berufsstandes: „Mit dem Hans-Türkheim-Preis ehren wir Forschung, die Erinnerung lebendig hält und Verantwortung im wissenschaftlichen Diskurs verankert. Frau Dr. Bitterich zeigt mit ihrer Arbeit, wie Aufarbeitung wissenschaftlich fundiert, kritisch und zugleich zukunftsweisend gestaltet werden kann.“

Erinnerung als dauerhafte Verpflichtung

„Diese gemeinsame Gedenkveranstaltung ist kein Schlusspunkt, sondern ein weiterer Schritt im fortlaufenden Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung. Erinnerung darf kein punktuelles Ereignis bleiben“, sagte BZÄK-Präsident Prof. Dr. Christoph Benz zum Abschluss. „Sie ist Teil unserer beruflichen und gesellschaftlichen Identität – heute und in Zukunft.“

Quelle:
Bundeszahnärztekammer (BZÄK)
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV)
Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK)

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