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Kinderzahnheilkunde

Das verkürzte Lippenbändchen – ein Stillhindernis?

Inwieweit ein verkürztes Lippenband bei Säuglingen das Stillen beeinträchtigt, ist umstritten [1]. In der Praxis kann es dazu führen, dass verkürzte Lippenbänder entweder zu häufig oder zu selten therapiert oder die Auswirkung auf das Stillen aufgrund von Unkenntnis oder Verunsicherung bei der Untersuchung ignoriert werden. Der folgende Beitrag soll mehr Sicherheit bei der Diagnostik und Therapie zu kurzer Lippenbänder bei Stillproblemen geben. Somit können Fehlbeurteilungen reduziert und eine Nicht-, Unter- oder Übertherapie verhindert werden.

Dr. D. Moghtader
Abb. 1: Eine sehr gute Lippenbeweglichkeit ist trotz Blanching oder Weißfärbung möglich.
Abb. 1: Eine sehr gute Lippenbeweglichkeit ist trotz Blanching oder Weißfärbung möglich.
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Anatomie und Histologie

Iwanaga et al. [7] kamen in ihren anatomischen und histologischen Studie zu dem Schluss, dass das Frenulum labii superioris eine Schleimhautfaszie ist, die durch das Bindegewebe in der Mittellinie gebildet wird. Das Bindegewebe verbindet die Labialschleimhaut und den Orbicularis oris in der Mittellinie nach oben und die befestigte Gingiva nach unten. Die Autorenschaft folgerten aus den Studienergebnissen, dass herkömmliche Techniken der Frenotomie modifiziert und vereinfacht werden könnten [7]. Das Frenulum labii superioris ist kein Schleimhautband oder Muskelansatz, sondern eine Faszie. Deshalb wird nachfolgend anatomisch korrekt der Begriff Lippenbandfaszie oder sublabiale Faszie für das Lippenband benutzt. Grundsätzlich gilt es, zwischen einer normalen und einer verkürzten Lippenbandfaszie mit Auswirkungen auf die Funktion zu unterscheiden. Die sichtbare Anatomie ist bei dieser Beurteilung nur ein Faktor [3]. Nachstehende Sachverhalte sind bei der Diagnostik restriktiver sublabialer Faszien zu beachten:

1. Die Anatomie bei Säuglingen darf nicht mit der Anatomie bei Erwachsenen verglichen werden. Bei Säuglingen gibt es das Wachstum der Kauleiste, sodass sich der Ansatzpunkt der Lippenbandfaszie der Kauleiste verändern kann [7]. Würde man die Anatomie von Erwachsenen als ausschlaggebendes Kriterium für eine Therapie bei Säuglingen heranziehen, müssten nahezu alle Säuglinge eine Trennung bekommen. Eine Übertherapie wäre die Folge.
2. Die verkürzte obere Lippenbandfaszie macht in der Regel keine Probleme beim Essen, Sprechen und Atmen und verursacht selten Spannungen in der Körpermuskulatur.
3. Im Säuglingsalter ist meist die Stillproblematik der Grund für eine mögliche Trennung der restriktiven superioren sublabialen Faszie.
4. Ist die Oberlippe während des Stillens nicht ausgestülpt und kann diese manuell nicht ausgestülpt werden, gibt es dafür 2 Hauptgründe: Entweder ist das Aufstülpen anatomisch aufgrund einer verkürzten sublabialen Faszie oder wegen der angespannten Muskulatur nicht möglich. Die hohe Muskelspannung kann multifaktoriell bedingt sein. Häufig ist sie eine Folge des kompensierten, alternativen Trinkens durch eine restriktive Zungenbandfaszie bei nicht optimaler Anlegetechnik. Ist die Oberlippe nicht aufgestülpt, kann das Vakuum nicht gehalten werden und die Oberlippe sowie die Kauleiste verursachen Druckstellen, Verletzungen und Schmerzen durch das nicht physiologische Saugmuster an der Brust. Dabei schluckt der Säugling aufgrund des rezidivierenden Vakuumverlustes häufig mit klickenden, schnalzenden oder schmatzenden Geräuschen Luft. Daraus können Bauchschmerzen, Blähungen oder ein Aerophagie-bedingter Reflux entstehen.
5. Ein Blanchieren (Blanching), also die Weißfärbung des Zahnfleisches am Ansatzpunkt ohne eine Funktionseinschränkung der Oberlippe, ist ein Faktor und kein allein entscheidender Grund, eine sublabiale Faszienplastik zur Optimierung des Stillens zu empfehlen, weil ein Blanchieren auch bei ausreichend guter Lippenfunktion auftreten kann (Abb. 1).
6. Eine Einkerbung (Notch) inmitten der Zahnleiste am Ansatzpunkt des Lippenbandes ist kein Hinweis dafür, dass dadurch das Stillen behindert wird (Abb. 2). Allerdings kann eine Einkerbung ein Hinweis dafür sein, dass die Kauleiste durch das Lippenband in der Entwicklung beeinträchtigt und deformiert wird (Abb. 3) und die Wahrscheinlichkeit für eine Lückenbildung bei den Frontzähnen erhöht sein könnte. Ein wissenschaftlicher Nachweis für diese Annahme fehlt noch. Heo [5] berichtet in einer Fallstudie von einer starken Verkürzung des Oberlippenbandes, die eine Hypoplasie des Prämaxillarbereichs, eine abnorme Lippenbewegung und -kontur bei einem Kind zeigt. Es bestand eine knöcherne anteriore Alveolarhypoplasie mit tiefem Sulkus im vorderen Oberkiefer, die mit einer 3D-Aufnahme mittels Computertomographie dokumentiert wurde. Ein postoperatives dreidimensionales CT-Bild des Gesichts, 10 Monate nach Frenotomie, zeigt ein gut knöchernes Wachstum von Prämaxilla und Alveole im Vergleich zum präoperativen CT-Status [5].
7. Verkürzte und tief ansetzende Lippenbandfaszien können im Lebensverlauf weitere Symptome verursachen, wie z.B. Verletzungen und Schmerzen, ausgelöst durch das Zähneputzen durch die Zahnbürste im Frontzahngebiet mit daraus folgender Aversion; die Unfähigkeit Speisen mit der Oberlippe vom Löffel abzunehmen; die Ansammlung und das Verweilen von Speiseresten an den Zahnhälsen der Inzisiven, die zu einem erhöhten Kariesrisiko führen können; den überproportional vergrößerten Lückenstand zwischen den ersten beiden Milchfrontzähnen; die permanente Frontzahnlücke (Diastema) bei den bleibenden Zähnen und einen Zahnfleischrückgang bei den Frontzähnen durch ständigen starken Zug an der Gingiva. In seltenen Fällen kann die Aussprache der Buchstaben, die eine aufgestülpte Rundung der Oberlippe benötigen, gestört sein, z.B. beim „O“. Ästhetische Beeinträchtigungen durch die eingestülpte Oberlippe sind möglich. Nicht ohne Grund hat der Begriff schmallippig eine negative Bedeutung, die durch das Aussehen der betroffenen Person aufgrund der Diskrepanz der Oberlippen- und Unterlippenfülle zustande kommt.

    Untersuchung mittels Mobility Scale Lippe (MSL)

    Um eine verbesserte Ersteinschätzung durch Fachpersonen möglich zu machen, wurde 2021 der Mobility Scale Lippe (MSL) vom Autor entwickelt (siehe QR-Code). Er ermöglicht eine schnelle und einfache Ersteinschätzung, inwieweit eine Therapie des Lippenbandes das Stillen beeinflussen kann. Weitere mögliche zukünftige Symptome werden nicht berücksichtigt.

    Entscheidend dabei ist, dass die Untersuchung mit dem MSL fachgerecht an der richtigen Stelle beim entspannten Säugling mit dem richtigen Griff und der notwendigen Kraft mehrfach bis zu einem reproduzierbaren Ergebnis durchgeführt wird, um falsch positive Ergebnisse durch eine hohe Muskelspannung des M. orbicularis oris auszuschließen (Abb. 4).

    Dr. D. Moghtader
    Abb. 4: Die praktische Anwendung des Mobility Scale Lippe (MSL).

    Eine anschließende Prüfung der Lippenmobilität an der Brust beim Saugen ist bei einem positiven Testergebnis obligat. Der MSL ist ein Instrument zur Bestimmung der Beweglichkeit der Oberlippe. Grad 0 bedeutet keine Einschränkung, also eine frei bewegliche Oberlippe, und Grad 3 eine stark eingeschränkte Oberlippenbeweglichkeit.

    Studien zum verkürzten Lippenband bei Stillproblemen

    Ghaheri [4] kommt bei seiner Studie zu folgenden Ergebnissen: Die chirurgische Trennung von Zungen- und Lippenbändchen führt zu einer signifikanten Verbesserung des Stillergebnisses. Die Verbesserungen treten früh auf (eine Woche postoperativ) und halten bis zu einem Monat postoperativ an. Diese Studie identifiziert eine bisher unterschätzte Patientengruppe, die von einem chirurgischen Eingriff profitieren kann, wenn abnormale Stillsymptome bestehen. Bei dieser Studie wurde nicht zwischen Zungen- und Lippenbändern differenziert, was die Aussagekraft limitiert. So wird nicht klar, was die Verbesserung der Stillproblematik verursacht hat [4].

    Dr. D. Moghtader
    * Vor einer Therapieentscheidung ist eine Vorstellung bei einer spezialisierten Fachperson zur Stillberatung und zum Funktionstest der Lippe und Zunge notwendig.

    In der Studie von Shah [11] gab es keine Korrelation zwischen dem Grad des Oberkieferbändchens und dem Stillkomfort, den Schmerzwerten oder dem Saugverhalten. Es wurde kein Zusammenhang zwischen der Länge des Zungenbändchens und der Lippenanatomie gefunden, was darauf hindeutet, dass verkürzte Zungen- und Lippenbändchen bei Säuglingen möglicherweise nicht voneinander abhängig zusammen auftreten.

    Bei dieser Studie wurden zur Beurteilung die Kotlov- und die Stanford-Einteilung benutzt, die unabhängig von der Funktion nur die Anatomie beurteilen und deshalb als Auswahlinstrument für eine Faszienplastik und für eine Studie ungeeignet sind. Das erklärt, warum es in der Studie von Shah et al. [11] keine Korrelation zwischen den nach diesen Instrumenten für eine Trennung ausgewählten Säuglingen und einer Verbesserung der Stillproblematik geben kann. Außerdem wurden die Symptome, die hauptsächlich durch das verkürzte obere Lippenband durch den Verlust des Vakuums beim Säugling vermutet werden und somit wichtige Kriterien für die Entscheidung zur sublabiale Faszienplastik, oberflächliches Andocken, eingezogene Oberlippe, kompensiertes Trinken, Aerophagie, Reflux, Schluckauf, Koliken, weder beschrieben noch untersucht [6,8].

    Die korrekte Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Studie müssen also lauten: Die Kotlov- und Stanford-Einteilungen sind nicht zur Bestimmung von Stillproblemen durch Lippenbänder geeignet und sollten deshalb nicht dafür angewendet werden. Insofern sind die Studienergebnisse nicht überraschend, da die Lippenbänder in dieser Studie unabhängig von ihrer funktionalen Beeinträchtigung, sondern allein aufgrund ihrer anatomischen Erscheinung gelöst wurden. Dass rein anatomisch deskriptive Beschreibungen für eine Studie ungeeignet sind, wird in der Studie von Nakhash [9] festgehalten. Hier wird bestätigt, dass das von Kotlow vorgeschlagene Klassifizierungssystem sich sowohl in Bezug auf die Übereinstimmung zwischen und innerhalb der Beobachter als auch in Bezug auf die Vorhersage des Schweregrads der Stillschwierigkeiten als nicht zuverlässig erwiesen hat [9].

    Nach Patel [10] führte die Trennung der Oberlippenfaszie bei richtig ausgewählten Säuglingen zu günstigen Kurzzeitergebnissen mit leichten kurz vorübergehenden Beschwerden beim Säugling und einer niedrigen Rezidivrate. Da es sich bei seiner Studie um eine Kurzzeitstudie handelte, die keine Kontrollgruppe umfasste, können keine Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit des Verfahrens oder zu den langfristigen Auswirkungen gemacht werden [8].

    Towfighi [12] zeigte, dass nur eine geringe Anzahl der Säuglinge zusätzlich zur Lösung des Zungenbandes eine Trennung des oberen Lippenbandes benötigte. Bei der Mehrheit (98,1%) der Säuglinge, bei denen nur das Zungenbändchen gelöst wurde, konnte nach nur einem Eingriff erfolgreich gestillt werden und nur 5,8% aller Säuglinge, bei denen bereits ein Eingriff am Zungenband vorgenommen wurde, benötigten zusätzlich eine Trennung des oberen Lippenbändchens [12]. Dieses Studienergebnis entspricht den Erfahrungen, die wir in der Praxis der Zungenbandzentren gemacht haben.

    In der Studie von Freeman et al. [2] wurden 7 Säuglinge mit isoliertem, zu kurzem Oberlippenband und Stillschwierigkeiten mit einer sublabialen Faszienplastik therapiert. Diese Säuglinge wurden bei den Nachuntersuchungen auf ihre Gewichtszunahme seit dem Eingriff untersucht. Die Mütter wurden zu ihren Erfahrungen mit dem Stillen seit der Trennung befragt. In der Folge zeigten diese Säuglinge eine verbesserte Gewichtszunahme und alle Mütter berichteten, dass ihnen das Stillen leichter fiel. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das verkürzte Lippenbändchen eine unterschätzte Ursache für Stillschwierigkeiten ist und legen nahe, dass die Lösung des verkürzten Oberlippenbandes eine wirksame Behandlung darstellt. Größere randomisierte, kontrollierte Studien sind notwendig, um dieses Thema weiter zu untersuchen [2].
    Die funktionale sublabiale Faszienplastik der oberen verkürzten Lippenbandfaszie bei Säuglingen und Babys ist wegen der multifaktoriellen Ursachen von Stillproblemen und des hohen Reattachment-Risikos kein Quickfix. Sie muss für eine hohe Erfolgsquote in einem Prozess mit Vorbereitung, Nachsorge und Stillberatung durch fortgebildete Fachpersonen und geschulte Operature/-innen eingebettet sein. Die klassischen Techniken, wie die Dieffenbach-V-Plastik, VY-Plastik oder Schuchardt-Z-Plastik, sind in diesen Fällen ungeeignet [7].

    Zusammenfassung

    Das Lippenband ist eine Faszie. Aus der Forschung gibt es erste Hinweise, dass das restriktive verkürzte Frenulum labii superioris bei 5% der Säuglinge zu Stillproblemen führt. Die Trennung der sublabialen Faszie unterstützt durch die Verbesserung der Lippenmobilität das physiologische Saugen durch ein optimiertes und anhaltendes Vakuum des Säuglings an der Brust. Das physiologische Saugmuster reduziert oder eliminiert die Symptome beim Säugling und bei der Mutter. Stillprobleme sind multifaktoriell bedingt und benötigen eine Untersuchung, Vorbereitung, Begleitung und Nachsorge durch spezialisierte Fachpersonen.

    Der Mobility Scale Lippe (MSL) kann bei fachgerechter Anwendung eine Prognose für die Therapie der Restriktion der superioren sublabialen Faszie (oberes Lippenband) geben. Der MSL ist bei Beratung und Ersteinschätzung durch spezialisierte Fachpersonen hilfreich. Bei der Zuweisung an spezialisierte Zahnärzte/-innen kann die Ersteinschätzung verständlich und reproduzierbar übermittelt werden. Der MSL führt zu mehr Sicherheit bei der Beurteilung und der Verlaufskontrolle der Beweglichkeit der Lippe in Bezug auf das Stillen und soll das Risiko für eine Nicht-, Unter- oder Übertherapie senken.

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