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Interview

Wittener Mundsprechstunde für Menschen mit Behinderung

Die Zahnklinik der Universität Witten/Herdecke ist die einzige Universitäts-Zahnklinik in Deutschland mit einem Lehrstuhl und einer Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin. Zu ihren Angeboten zählt u.a. eine Mundsprechstunde, die die Oberärztin der Behindertenorientierten Zahnmedizin Dr. Gisela Goedicke-Padligur gemeinsam mit der niedergelassenen Logopädin und Castillo Morales-Therapeutin Ute Lehnert für Menschen mit Behinderung anbietet. Wir befragen das interprofessionelle Team zu den Zielen und Erfolgen dieser Sprechstunde sowie zu Therapieansätzen.

Goedicke-Padligur/Lehnert
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ZMK: An wen wendet sich die Wittener Mundsprechstunde und welche Ziele verfolgt sie?

Dr. Gisela Goedicke-Padligur: Wir beraten Menschen mit Behinderung aller Altersgruppen, die mundmotorische Probleme aufweisen, z.B. Personen mit Zerebralparese, Down-Syndrom oder anderen Syndromen. Unter mundmotorischen Problemen versteht man u.a. Fütter- und Kaustörungen, vermehrten Speichelfluss wie auch Zungenfehlfunktionen, verbunden mit einer Mundatmung. In diesem Zusammenhang ist auch das sogenannte übersteigerte orale Stimulationsbedürfnis zu nennen, dass sich z.B. durch Nagen an den Händen oder an Kleidungsstücken bemerkbar macht.

Ute Lehnert: Frau Goedicke-Padligur und ich führen die komplette orofaziale Diagnostik für Menschen mit Behinderung in interprofessioneller Zusammenarbeit durch. Das Ziel ist die Erstellung einer individuell angepassten Therapieempfehlung. So können Eltern oder Angehörige gezielt Hilfestellung bekommen. Wir versuchen auch immer Anregungen für den Alltag, gerade in der Trink- und Ess-Therapie, mitzugeben, die dann direkt zu Hause umgesetzt werden können.

Inwieweit ist es ratsam, die von Ihnen genannten Störungsbilder interprofessionell zu therapieren?

Goedicke-Padligur: Für uns beide ist das interprofessionelle Arbeiten unabdingbar. Nur so können wir unsere Patienten ausreichend beraten. Wir führen das Anamnesegespräch gemeinsam durch. Die Erhebung des Zahnstatus und die Kariesdiagnostik sind natürlich Aufgaben für mich als Zahnärztin. Die weiteren Befundungen der orofazialen Region bedürfen einer gemeinsamen Beurteilung. So schauen wir nach der gesamtkörperlichen Entwicklung, nach Kopf- und Körperhaltungskontrolle und nach der sensorischen Empfindung. Natürlich werden auch weitere logopädische Bereiche beurteilt. Das gesamte funktionelle Gebiet von Mund-Motorik und -Funktion umfasst den gesamten Körper und Geist, wie auch das Sprechen, das Verständnis, die Kommunikation und noch vieles mehr und nicht nur die Zähne!

Welche Aspekte spielen in der Befundung eine zentrale Rolle? Wie gehen Sie vor?

Lehnert: Zur allgemeinen Anamnese oder Befunderhebung gehört auch die Frage, ob eine rein orale Ernährung möglich ist oder ob eine Sondenernährung erforderlich ist. In bestimmten Fällen kann nur eine geringe Menge der Nahrung oral gegeben werden. Um aber den gesamten Kalorienbedarf zu decken, wird zusätzlich ein Teil der Nahrung über die Sonde zugeführt.

Auch erfragen wir, was gegessen werden kann und wie gegessen wird: z.B. kann Brot mit Kruste, Brei mit Stücken oder ein Apfel gegessen werden? Stopft oder schlingt der Patient oder die Patientin die Nahrung? Wie gut kann gekaut werden? Isst unser besonderer Patient oder die besondere Patientin selbstständig oder braucht er oder sie Unterstützung und wenn ja, welche? Welche Trinkbecher, Löffel, Gabeln oder andere Hilfsmittel werden genutzt? Ist der Mundschluss möglich oder ist der Mund immer offen? Wie wird geschlafen, mit offenem oder geschlossenem Mund? Schnarcht der Patient oder die Patientin? Wie ist die Lage der Zunge? Wie sieht es mit der Speichelkontrolle aus? Die Körperhaltung und die physiologische Aufrichtung des Oberköpers sind im Zusammenhang mit den genannten Punkten enorm wichtig, auch wenn der Patient im Rollstuhl sitzt.

Goedicke-Padligur: Die Eltern oder Betreuer werden im Vorfeld bei der Termin-Vereinbarung gebeten, das Lieblingsgetränk und Lieblingsessen und falls vorhanden, Ess- und Trinkhilfen mitzubringen. Wichtig ist für uns auch, welche Fragen und Erwartungen die Eltern und/oder Betreuer bzw. Betreuerinnen an unsere gemeinsame Sprechstunde haben.Unser Patient bzw. unsere Patientin isst und trinkt dann in unserer Sprechstunde und so können Frau Lehnert und ich gemeinsam beurteilen, welche Techniken sinnvoll oder weniger sinnvoll genutzt werden und welche Hilfsmittel und Hilfestellungen beim Essen gegeben werden können.

Wo liegen die Schnittstellen Ihrer Disziplinen?

Goedicke-Padligur: Wie schon gesagt, das Ziel ist die Erstellung einer individuell angepassten, interprofessionellen Therapieempfehlung. Dies schließt Maßnahmen aus den Gebieten der Zahnmedizin und Logopädie ein. Zu nennen wären da Maßnahmen aus der Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Außerdem kann eine Ernährungsberatung, die Verordnung von Hilfsmitteln und/oder eine psychologische Betreuung sinnvoll sein.

Eine wichtige Schnittstelle bei der gemeinsamen Überlegung ist, ob in der zahnärztlichen Betreuung der Einsatz von intraoralen stimulierenden Gaumenplatten nach Castillo Morales® oder von Mundvorhofplatten (MVP) von Nöten ist, um den gesamten orofazialen Komplex zu fördern. Wir überlegen, ob uns die Gaumenplatte zur Anbahnung des Schluckens und zur Förderung der Qualität und der Frequenz des Schluckens dienen kann. Kann mit der Gaumenplatte der Mundschluss bei offener Mundhaltung positiv zu einer geschlossenen Mundhaltung angeregt werden?

Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Einsatz der stimulierenden Gaumenplatte nach Castillo Morales®?

Lehnert: Nicht für jeden Patienten mit einer orofazialen Problematik ist eine Stimulationsplatte sinnvoll. Bei unserer gemeinsamen Befundung entscheiden wir zusammen, ob wir unseren Patienten oder unsere Patientin mit Hilfe einer Stimulationsplatte nach Castillo Morales® in der Trink- und Esstherapie unterstützen können.

Die Stimulationsplatte ist ein Trainingsgerät für die Zunge zur Verbesserung der Kaufunktion, der Speichelkontrolle und des Mundschlusses. Die logopädische Förderung wird durch das Tragen der Stimulationsplatte deutlich unterstützt. Die Therapie nach Castillo Morales® geht nicht den Weg über die Kognition und das bewusste Verändern von Automatismen, das ist für viele Patienten nicht möglich. Die Gaumenplatte stimuliert vielmehr eine Reaktion des orofazialen Traktes.

Es sollen mehrere Punkte erreicht werden: Die Zunge soll sich an den Gaumen legen, der Mund soll sich schließen, der Kopf aus der Reklination in eine neutrale Position kommen und der Nacken gestärkt werden. Die Nasenatmung wird dadurch automatisch aktiviert. Wir beobachten bei Personen mit orofazialen Problemen durch die Verbesserung der Funktionen in der Mundregion in vielen Fällen deutlich weniger Infekte, eine bessere Ästhetik und eine bessere soziale Akzeptanz.

Welche Voraussetzungen müssen für den Einsatz dieses Hilfsmittels bestehen?

Goedicke-Padligur: Voraussetzung für diese Therapie ist eine möglichst freie Nasenatmung, die Möglichkeiten der Abformung des Oberkiefers oder von intraoralen Scans. Die logopädische Begleitung ist ein Muss, ebenso die Kooperation mit den Eltern und/oder den Unterstützungspersonen aus den betreuten Wohneinrichtungen. Bei Kindern muss außerdem in bestimmten Altersphasen der Zahnwechsel abgewartet werden.

Wie werden Bezugspersonen bzw. Pflegekräfte von Menschen mit Behinderung in der Regel in die Behandlung unterstützend einbezogen?

Goedicke-Padligur: Die Stimulationsplatte nach Castillo Morales® ist ein Trainingsgerät für die Zunge. Die Platte sollte immer unter Beobachtung von Angehörigen oder des Unterstützungs- bzw. Pflegepersonals drei- bis viermal am Tag maximal eine halbe Stunde lang getragen werden. Ohne ihre Unterstützung scheitert die Durchführung.  Es reichen am Anfang schon wenige Minuten Tragezeit und diese kann dann nach und nach gesteigert werden.

Ebenso ist es wichtig, die Platte positiv zu besetzen. Das heißt, die Eltern bzw. die Betreuungspersonen müssen während der Tragezeit der Platte dabei sein und können z.B. eine schöne Geschichte vorlesen oder man kann einen Film zusammen schauen. Alternativ könnte man mit dem Kind spielen oder die Tragezeit einfach als kleine positive Pause betrachten und in den Alltag einbinden.

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Wir als Zahnärzte und Zahnärztinnen müssen die Begleitpersonen unterstützen und aufmerksam sein. In dem Zeitraum, in dem ein Kind die Therapie mit der Stimulationsplatte bekommt, geht das körperliche Wachstum weiter und die zahnärztlichen Kontrollen sollten deshalb alle sechs bis zwölf Wochen erfolgen. Es können z.B. Druckstellen im Mundbereich auftreten. Schon ein leichter Druck oder Schmerz, bedingt durch das Wachstum, kann zur Verweigerungshaltung führen.

Die Eltern und/oder Unterstützungspersonen müssen das wissen und dürfen die Stimulationsplatte nicht weitertragen lassen, wenn es zur Abwehr kommt. Es ist dann wichtig, zu uns in die Sprechstunde zu kommen. Wir müssen auch als Zahnärzte sensibel, aufmerksam und einfühlsam sein, damit wir schon leichte Veränderungen in der Mundhöhle erkennen und dann gezielt die Platte anpassen können. Denn unser Patient bzw. unsere Patientin hat immer recht!

Goedicke-Padligur/Lehnert

Verbessern die Therapieerfolge der Mundsprechstunde nach Ihrer Einschätzung die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität der betroffenen Menschen mit Behinderung?

Goedicke-Padligur: Die Mundsprechstunde ist eine Bereicherung für unsere besonderen Patienten und Patientinnen, da ich als Zahnärztin die logopädische Sichtweise nicht vergesse und die Logopädin die zahnärztliche Sichtweise berücksichtigt. So können wir viel zu der Lebensqualität der besonderen Patienten und Patientinnen beitragen und dieses schon mit kleinen Hilfsmitteln.

Lehnert: Durch Verbesserung der orofazialen Funktionenwird die Ernährungssituation positiv beeinflusst und die Füttersituation wird entspannter. Durch den Mundschluss wird die Speichelkontrolle verbessert und die Nasenatmung aktiviert.

Die zahnärztliche Heilmittelverordnung beinhaltet „Maßnahmen der Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie“. Sollte der niedergelassene Kollege bzw. die niedergelassene Kollegin die logopädische Therapie bei myofazialen Dysfunktionen verschreiben und deren Einleitung unterstützen, wenn eine Stimulationsplatte nach Castillo Morales® zum Einsatz kommt*?

Goedicke-Padligur: Wir können dies aus unserer Sicht nur unterstützen und wir hoffen, dass sich mehr Zahnärzte und Kieferorthopäden diesem Thema annehmen. Aber bitte nie ohne die logopädische Therapie. Es sollte auf jeden Fall die Planung der logopädischen Behandlung bestehen und der Patient auf einer Warteliste zur logopädischen Behandlung vorgemerkt sein. Bei der Anfertigung einer Platte sind genaue Überlegungen unabdingbar: Wo muss ich meinen Reizknopf an die Platte setzen, wie gestalte ich die Platte und den Knopf, welches Material nehme ich für diesen besonderen Patienten bzw. für die besondere Patientin?

Ich freue mich über jeden Patienten und jede Patientin, den bzw. die wir unterstützen können. Ich kann nur empfehlen, die zahnärztliche und die logopädische Zusammenarbeit zu fördern, dann ist es im Ergebnis für den Patienten bzw. die Patientin eine echte Bereicherung.

Das schriftliche Interview wurde von Dagmar Kromer-Busch durchgeführt.

Die Mundsprechstunde in der Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin findet alle 2 bis 3 Monate statt. Diese wird seit 2019 angeboten. Ermöglicht wurde der Aufbau der Mundsprechstunde durch die Unterstützung des damaligen Leiters der Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin, Univ.-Prof. Dr. med. dent. Andreas Schulte.

Sources

* Anmerkung: Bei oralen Dysfunktionen kann über die Heilmittelverordnung bei folgenden Indikationsgruppen Logopädie rezeptiert werden (Heilmittelkatalog für Zahnärzte (2020)): SPZ: Störung des Sprechens; SCZ: Störung des oralen Schluckaktes; OFZ: Orofaziale Funktionsstörung

Anmerkung der Interviewpartner:
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Durchführung der Mundsprechstunde und die enge Zusammenarbeit mit der Logopädie. Folglich möchten wir berichten, dass aufgrund der hohen Individualität bei der Gestaltung von Stimulationsplatten, besonders für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten, in diesem Interviewbeitrag auf die Abbildung einer spezifischen Platte verzichtet wurde.

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