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Der alltägliche (Wahn-)Sinn

Folge 1: Comeback – eine Teleskoparbeit aus dem Nichts

Nach all den Jahren der Stille, da war sie wieder, reine Handarbeit und natürlich in Gold …

M. Schenk
Prof. Dr. Peter Pospiech präsentierte die Entwicklung und die heutigen Möglichkeiten auf dem Gebiet der CAD/CAM-hergestellten Suprakonstruktionen.

Liebe Leserinnen und Leser,
kennen wir ihn nicht alle, den alltäglichen Wahnsinn bei unserer Sinnsuche? Schon die, die das Lehrlingsdasein noch gar nicht verlassen haben, wissen: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Unser Dentalheld Matthias Schenk beschreibt in loser Folge und ohne Blatt vor dem Mund einfach mal Szenen aus seinem Leben. Vielleicht nicht immer politisch korrekt, aber immer zum Schmunzeln und stets mit dem berühmten Körnchen Wahrheit inbegriffen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und vielleicht fühlen Sie sich ja auch einmal ermuntert, aus Ihrem Heldenalltag zu berichten.

Ihr Prof. Dr. Peter Pospiech

Anfang Dezember bekam ich einen Anruf aus der Rhön: „Die Abdrücke sind dann abzuholen.“ – Welche Abformungen? Habe ich einen Termin verschlafen? Nein, meine Patientin dachte einfach, wenn der Zahnarzt anfängt, ist es ausreichend, mir Bescheid zu geben. So als wenn man zum Bäcker geht und Semmeln kauft. Ups! Wie soll ich das nun noch terminlich unterbringen? Ein unbekannter Behandler, den will man ja nicht vor den Kopf stoßen und präpariert hat er auch schon. Nehme ich also die Arbeit an oder lehne ich ab? Selbstverständlich nehme ich die Arbeit meiner Patientin, welche 6 Jahre verschollen war, gerne an.

Ich lasse also alles stehen und liegen. Natürlich habe ich vorher alle Geräte ordentlich heruntergefahren, die Heizkörperventile zugedreht und das Gas über ein elektrisches Magnetventil ausgeschaltet, meine Rufumleitung programmiert und mich in mein Auto gesetzt, um die rund 100 km mit Blaulicht und Sirene – zumindest in meiner Phantasie – ins nahegelegene Mittelgebirge hinaufzublasen. Wegen der vielen Baustellen und des dichten Verkehrs in Würzburg-Stadt – denn ich wohne genau am anderen Ende – kam ich dann auch „bereits“ nach 1½ Stunden „ganz entspannt“ an und nahm die blutigen Abformungen staunend entgegen. Sie wurden desinfiziert und abgewaschen. Dann brütete ich eine Strategie aus, um an bessere Unterlagen zu gelangen (Abb. 1). Und da war sie, die Lösung! Aus dem Jahr 2016 hatte ich noch einen Schatz: analoge Daten aus gelbem Gips (Abb. 2). Diese matchte ich mit einem Knet-Silikon-Vorwall in handwerklicher Tradition mit den neu entstandenen grauen Modellen (Abb. 3–5).

Die Teleskoparbeit aus dem Nichts

Woher auf einmal die Situationsmodelle aus besseren Zeiten? Tja, eben ein Comeback. Damals waren in dieser Mundhöhle noch 14 Zähne im UK und 6 im OK mehr vorhanden (Abb. 6). Heute: 2 unbekannte Behandler, 20 Zähne weniger. Zugegeben, der parodontale Zustand war mir damals ebenfalls suspekt und da die Patientin dem staatlichen Gesundheitswesen sehr kritisch gegenüberstand, blieb es vorsichtshalber bei diesem Provisorium (Abb. 7).

Die lebenserfahrene resolute Dame hatte einfach schon viel leiden müssen. Was nicht heißen soll, dass sich die einzelnen Akteure nicht durchaus bemühten. Sie als Laiin steht mit dieser kritischen Einstellung nicht ganz allein da, gerade Kenner und Fachleute im Gesundheitswesen prangern unser System an. Auch Teile der Zahnärzteschaft finden es gelinde gesagt unangebracht, dass die schnellen und damit oft ungenau arbeitenden Kolleginnen und Kollegen systembedingt die größte Belohnung erfahren.

Ich persönlich denke, solch ein System kann langfristig nicht existieren, dazu müssten Patientinnen und Patienten dann aber auch Eigenverantwortung übernehmen. Aus ihrer Erfahrung heraus konnte meine Patientin jedenfalls damals schlichtweg nicht glauben, dass die nicht schmerzenden Zähne in einem parodontal schlechten Zustand waren. So war seinerzeit eine langfristige Versorgung nicht möglich. Eine ähnlich kritische Einstellung vertrat sie auch bei der sog. Corona-Schutzimpfung. Bei der neuen Grundsteuerberechnung legte sie zudem fleißig Einspruch ein, mit einer juristisch sehr fein abgestimmten Begründung, möchte ich anmerken. Warum ich das hier preisgebe? Weil diese Frau eine starke Persönlichkeit ist, und dies spiegelt sich auch in der Zahnform und Zahnstellung wider.

Solche Informationen machen meine Arbeit lebenswert (Abb. 8–10). Die alten Familienfotos lieferten weitere Indizien (Abb. 11 und 12). Der schmale Oberkiefer, wie bei Abbildung 7 zu erahnen, die tiefen Inzisalkanten der oberen Frontzähne, die damit entstehende aufgeworfene volle Oberlippe: Das ist kein hässliches Gummy Smile, welches korrigiert werden will. Im richtigen Rahmen präsentiert, ist das sehr sinnlich (Abb. 13). Wie wende ich nun aber diese Informationen auf die neue Situation an (Abb. 14 und 15)? 2022 sind nur noch 3 Zahnstümpfe im Oberkiefer vorhanden, die Relation ist nach 2 fehlgeschlagenen Behandlungen verloren gegangen. Wie soll die alte Dame denn nun richtig beißen? Zum Glück verrät mir der Silikonvorwall (Abb. 4), dass der kurze Stumpf nicht – wie üblicherweise – als Anhaltspunkt für eine Ebene herangezogen werden kann. Und das allein ist auch schon eine wichtige Information, um die Spur der verlorenen 20 Zähne aufzunehmen.

Immerhin kam ein Altgoldgewicht entsprechend dem der neuen Arbeit zustande (Abb. 16 a). Ans Tageslicht kam allerdings auch eine Batterie! Wie Abbildung 16 b) zeigt, liegt hier eine Amalgamfüllung mit goldener Krone vor, was etwa 3 V Spannung liefert. Vermutlich handelte es sich um eine alte Füllung, die nicht vollständig entfernt wurde, denn ich möchte nicht davon ausgehen, dass es sich um eine extra gelegte Unterfüllung aus Amalgam für die neue Goldkrone handelte. An der Stelle möchte ich meine Kolleginnen und Kollegen zudem erinnern, beim Reinigen von Altgold nicht alles einfach abzufackeln, denn sonst haben wir eine ziemliche Quecksilber-Wolke in der Bude. 2025 soll das quecksilberhaltige Amalgam dann auch in den Mündern der Menschen Geschichte werden – was für ein Segen …

Zurück zum Fall! Die Ausgangssituation bot zum Glück Anhaltspunkte aus der vergangenen Behandlung von 2016. Durch den Vorwall auf den „Blasen“-Modellen war es nicht schwer, alle Beteiligten von der Notwendigkeit einer neuen Abformung zu überzeugen (Abb. 3). Diese Gelegenheit nutzend, brachte ich sogleich einen individuellen Abformlöffel mit, welcher bereits mit einem Kunststoffwall versehen war. Die Dimensionen des Walls schätzte ich aus den Daten meines Schatzes. Gleichzeitig entstand so der Eindruck, wir hätten gar keinen Termin zusätzlich verbraucht. Nebenbei kontrollierte ich die Ausdehnung meiner Planung mit dem Bisswalllöffel und hielt das Ergebnis im Foto fest (Abb. 17). Auch die Fotografie mit der letzten Prothese aus dem Praxislabor half mir, Fehler zu vermeiden (Abb. 18).

M. Schenk
Abb. 19: Verwendung eines ungeeigneten Haftvermittlers führt zum gegenteiligen Effekt.

An was ich allerdings nicht dachte – und daher mein Tipp: Nehmen Sie immer verschiedene Haftvermittler mit in die Zahnarztpraxis, denn es gibt Praxen, die sogenannte Universalhaftvermittler verwenden, die aber nicht haften. Ob es am falschen Material oder an der Verarbeitung liegt, weiß ich nicht. Es gibt eben unendlich viele Fehlerquellen (Abb. 19). Einen dritten Termin für eine Abformung von 3 Restzähnen wage ich vor Weihnachten nicht zu verlangen. Auf dem Modell stelle ich daher „nur“ die Primärteile her und mache mich erneut auf den Weg. Der Zahnarzt war eigentlich sehr kooperativ. Er ließ mir freie Hand und vertraute die Arbeitsumgebung seinen selbstständig agierenden Auszubildenden an. So versuchte ich, nicht allzu viel Wirbel in deren Abläufe zu bringen. Selbst als die Abformung mit Desinfektionstüchern desinfiziert wurde (denn Sprühdesinfektion sei, wie man in der Berufsschule gelernt habe, gesundheitsschädlich und Tauchdesinfektion angeblich zu teuer), hielt ich mich zurück.

M. Schenk
Abb. 20: Artikulation mit alter Prothese als Bissschablone.

Zudem konnten die Primärteleskope auf den Stümpfen problemlos hergestellt werden (vgl. Abb. 5). Der modifizierte Sammelabformfunktionslöffel wurde von mir bereits im Labor mit geeignetem Haftvermittler versehen. Den Biss konnten wir tatsächlich mit der vorherigen Prothese nehmen, die grundlegend gut vertragen wurde, allerdings schief und hässlich war (Abb. 20). In der Zahnarztpraxis entstand so sogar das Gefühl, Zeit gespart zu haben, und ich hatte endlich mein Meistermodell. Jetzt konnte die eigentliche, spannende, kreative und Freude bereitende, schlecht bezahlte Kunststoffarbeit beginnen.

Und dann der Schock

Die erste Wachseinprobe. Im geschlossenen Zustand (Abb. 21 und 22) sah alles noch gut aus. Doch dann kam das Lachen (Abb. 23–25). Grauenhaft! Dabei war links schon das Gerüst des Teleskops zu sehen. Viel höher konnte die Kauebene also nicht gelegt werden: Die Patientin zog die Lippe nach oben, um das Ergebnis kritisch zu beäugen. An ein normales Lächeln war trotz Bitten und Betteln nicht zu denken. Auch nicht mit der alten Prothese zum Vergleich (Abb. 26).

Wie konnte das Resultat so extrem ausfallen? Wie Abbildung 27 anhand eines Stempels aus Knetmasse verdeutlicht, war die Veränderung von der vorherigen Prothese zu der jetzigen Wachsaufstellung eigentlich nicht allzu groß. Doch die Umschlagfalte war stark aufgefüllt und das künstliche Hochziehen verstärkte die optische Erscheinung noch. Weitere Vergleichsfotos sollten helfen (Abb. 28 und 29). Danach: Noch ein bisschen höher gehen, ein paar Schliffspuren an den Kaukanten, ein wenig dünner in der Umschlagfalte und wir hatten es geschafft. Weihnachten konnte kommen (Abb. 30–33).

Fazit

Die Patientin ist ein Charaktertyp mit markanten, kantigen Zähnen. Die Ebenen sind symmetrisch, was ihre strukturierte, logisch denkende Ausrichtung widerspiegelt. Die Lippen sind sinnlich aufgeworfen und weisen eine hohe Dynamik auf. Die linke Gesichtshälfte ist etwas breiter geschwungen – sowohl die Augenbrauen als auch die OK- und UK-Lippen sind ausgeprägter als auf der rechten Seite. Daraus ergab sich, dass auch der Eckzahn weiter nach bukkal gedreht war. Zudem ist in der Ansicht von basal (Abb. 34) schön zu sehen, wie sich die natürliche Position der beiden Eckzähne in Relation zur Papilla incisiva darstellt. Die Abschlussfotos wurden dann doch noch ganz gut. Sie zeigen die Patientin im Porträt: ein charakterstarker Mensch mit passender prothetischer Versorgung (Abb. 35–37).

Etwa ein Jahr danach – gerade als ich diesen Artikel schrieb – erfuhr ich, dass die Patientin erneut Probleme beim Essen habe – insbesondere Salat sei eine echte Herausforderung. Hinzu kämen Schmerzen in einem der teleskopierten Zähne. Es sieht also schwer nach einem Comeback der Comeback-Arbeit aus. Wie hieß doch gleich der alte Grieche, der den Stein den Berg hochrollen musste …?

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