Amelogenesis imperfecta (AI) ist eine hereditäre, verhältnismäßig selten auftretende Erkrankung des Zahnschmelzes. Ihre Verteilung ist nicht gleichmäßig. Sie wird mit einer Prävalenz zwischen 1:700 und 1:14.000 angegeben in Abhängigkeit von der untersuchten Population [5,34]. Diese Erkrankung äußert sich in einem breiten Spektrum klinischer Erscheinungsformen. Diese beeinflussen die Struktur und das Aussehen des Zahnschmelzes aller Zähne im Milch- und Dauergebiss. Eine Einteilung nach der Erscheinungsform, die bis heute die größte Verbreitung gefunden hat, wurde 1957 von Witkop vorgeschlagen [34]. In dieser Einteilung unterscheidet man je nach Aussehen der Zahnoberfläche vier Klassen:
Klasse I mit hypoplastischem, Klasse II mit hypomaturiertem und Klasse III mit hypokalzifiziertem Schmelz. Die Klasse IV ist verbunden mit Taurodontismus und einer Mischung aus hypomaturiertem und hypokalzifiziertem Zahnschmelz.
Es gibt viele Probleme, mit denen AI-Patienten konfrontiert sind. Diese Patienten sollten multidisziplinär von Kinderärzten und Kinderzahnärzten, Kieferorthopäden, Kieferchirurgen und auf Prothetik spezialisierten Zahnärzten und Zahntechnikern in enger Zusammenarbeit betreut werden. Auch eine logopädische und psychologische Begleitung kann von unschätzbarem Wert sein [8,27]. Eine bestmögliche skelettale, morphologische und funktionelle Rehabilitation ist zumeist komplex. Diese beginnt in der Kindheit und dauert bis ins frühe Erwachsenenalter. Das von vielen Patienten erwartete schnelle Ergebnis, das das Aussehen und so die Akzeptanz in der Gesellschaft verbessert, kann oft nicht ad hoc umgesetzt werden, denn nur durch einen gut geplanten, schrittweisen und vor allem lebenslangen Ansatz können die von AI betroffenen Zähne so lange wie möglich erhalten werden.
Eine besondere klinische Herausforderung bietet die häufige Koexistenz der Amelogenesis imperfecta mit einem skelettal offenen Biss [2,4,28]. Die zur Wiederherstellung von Patienten mit AI verfügbaren Behandlungsoptionen variieren erheblich in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie z.B. Schwere der Veränderung der Zahnstruktur, Alter und Motivation der Betroffenen, sozioökonomischer Status und vor allem der Möglichkeit zur Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen [29–31].
Befund
Dr. Witanski
Therapieplan
In der ersten Beratung wurde ein möglicher Verlauf der Therapie gemeinsam mit dem Patienten und den ihn begleitenden Eltern vorgestellt:
- Vorstellung in einer logopädischen Sprechstunde
- Chirurgische Gaumennahterweiterung mittels einer kieferorthopädischen Gaumennahterweiterungsapparatur und Entfernung der Zähne 18, 28, 38, 48
- Kieferorthopädische Vorbehandlung (Multibandbehandlung zum Ausformen der Zahnbögen)
- Chirurgische Umstellungsosteotomie im Ober- und Unterkiefer
- Kieferorthopädische Feineinstellung
- Metallentfernung
- Prothetische Versorgung
- Lebenslange Retention.
Vorbehandlungsphase
Dr. Witanski
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Dr. Witanski
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Für die bimaxilläre Umstellung mittels Le-Fort-I-Osteotomie im Oberkiefer sowie sagittaler Spaltung des Unterkiefers nach der Technik Obwegeser-Dal Pont wurde lediglich ein Zwischensplint angefertigt. Auf den Endsplint konnte durch die eindeutige – von den Provisorien vorgegebene – Position verzichtet werden. Die Fixierung der Segmente geschah durch Osteosyntheseplatten. Die intermaxilläre Verschnürung erfolgte über fünf Wochen hinweg mittels dreier IMV-Schrauben und KFO-Gummis (Abb. 8a–c). Nach Entfernung der IMV-Schrauben wurden zur Stabilisierung des Umstellungsergebnisses (links anterior leicht offen mit Tendenz zum Kopfbiss) KFO-Brackets auf die PMMA-Provisorien geklebt und der Patient zum Einhängen von Gummis eingewiesen. Die einjährige Kontrollphase konnte ortsnah erfolgen (Abb. 9a u. b). Dr. Witanski
Dr. Witanski
Bei der Untersuchung zur Metallentfernung ein Jahr nach der Umstellungsosteotomie fielen nicht nur die Mundhygienedefizite auf, sondern auch, dass der Patient eine deutlich veränderte Okklusionsposition einnahm. Röntgenologisch bestätigte sich der Verdacht auf Fraktur der UK-Osteosyntheseplatte mit Pseudoarthrose (Abb. 10 u. 11), sodass eine neue Osteosyntheseplatte eingesetzt werden musste. Nach primärer Wundheilung wurde die Okklusion durch Einschleifmaßnahmen optimiert und der Patient wieder für sechs Monate bis zur Metallentfernung entlassen. Dr. Witanski
Dr. Witanski
Definitive prothetische Versorgung
Zwei Monate nach der chirurgischen Metallentfernung wurde zunächst mit der definitiven prothetischen Versorgung des Oberkiefers mit farboptimierten monolithischen Zirkoniumdioxidkronen (Ceramill ZI, Amann Girrbach) für die Seitenzähne und verblendeten Zirkoniumdioxidkronen für die Front- und Eckzähne begonnen. Auf Wunsch des Patienten wurden die Zähne 18 und 28 nicht entfernt. Die Oberkieferzähne wurden in zwei Sitzungen präpariert und mittels Korrekturabformung (Flexitime putty/Flexitime correct flow, Kulzer) abgeformt. Das Oberkiefermeistermodell wurde nach Gesichtsbogenübertragung in einen SAM-Artikulator (SAM Präzisionstechnik) montiert, die Zuordnung des Unterkiefermodells erfolgte mittels Stützstiftregistrat nach Gerber (Abb. 12 u. 13). Nach dem Einscannen der Modelle in ermittelter Bissposition (3Shape- Scanner) erfolgten nun die Konstruktion der Oberkieferseitenzahnkronen und der Gerüste der Frontzahnkronen (Abb. 14 a–c) sowie im Anschluss die Herstellung im CAD/CAM-Verfahren. Nach einer Zwischenanprobe wurden die Gerüste der Frontzahnkronen verblendet und die Seitenzahnkronen durch Bemalung farboptimiert. Dr. Witanski
Dr. Witanski
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Nach Fertigstellung der Versorgung fiel eine pathologische Beweglichkeit des Zahnes 25 auf. Das daraufhin angefertigte Röntgenbild und die klinische Symptomatik bestätigten den Verdacht einer zervikalen Resorption (Abb. 15). Nach umfassender Aufklärung über die Möglichkeiten des Lückenschlusses entschied sich der Patient für eine Einzelzahnimplantation. Nach Extraktion des Zahnes wurde eine Miniplastschiene mit Platzhalterfunktion nach entsprechend eingehender Aufklärung eingegliedert. Aufgrund mangelnder Mitarbeit stellte sich die Lücke nach drei Monaten für eine Implantation als nicht ausreichend groß dar. Ein kieferorthopädischer Ansatz kam für den Patienten nicht mehr infrage und eine Brückenversorgung bot aufgrund der Lückenbreite keine ästhetisch zufriedenstellende Lösung, sodass eine Neuanfertigung und Verbreiterung der Kronen 24 und 26 nach der Knochenumbauphase in Region 25 erfolgte.
Im Unterkiefer wurden in gleicher Weise wie im Oberkiefer monolithische Zirkoniumdioxidkronen für die Seitenzähne und verblendete Zirkoniumdioxidkronen für die Frontzähne eingegliedert. Es wurde auf Wunsch des Patienten im Gegensatz zum Oberkiefer eine fraktionierte Vorgehensweise gewählt. Hierbei wurden die Zähne 44–47 präpariert und mittels Korrekturabformtechnik (Flexitime correct flow, Kulzer) abgeformt. Entsprechend wurde ein Modell hergestellt und dieses eingescannt (Abb. 16 a–c). Die Bisssituation wurde schrittweise mittels partieller interokklusaler Registrate aus hartem, additionsvernetzendem Bissregistriermaterial (Flexitime Bite, Kulzer) festgehalten. Nach der Anprobe der Kronen 44–47 wurden die Zähne 34–37 präpariert. In gleicher Weise folgte die Zuordnung der Bisssituation mittels eines partiellen interokklusalen Registrats (Flexitime Bite, Kulzer). Die Abformung wurde erneut in Korrekturabformtechnik (Flexi-time correct flow, Kulzer) mit temporär eingesetzten Kronen 44–47 durchgeführt (Abb. 17), welche nach Herausnahme der Abformung in diese reponiert wurden, um ein Meistermodell mit Kunststoffstümpfen (Palavit G, Kulzer) herstellen zu können. Die Zuordnung der Modelle erfolgte auf der linken Seite mit partiellem Registrat, rechts über die definitiven Kronen. Nach der Konstruktion und Herstellung der Kronen 34–37 wurden diese temporär eingesetzt (Temporan, Detax) und die zuvor präparierte Unterkieferfront (33–43) mittels Korrekturabformtechnik abgeformt. Alle Unterkieferkronen (Abb. 18) wurden mit selbstadhäsivem universalem Komposit- Befestigungszement (Relyx unicem Aplicap, 3M Espe) eingesetzt. Dr. Witanski
Dr. Witanski
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Insgesamt sechs Monate nach Extraktion des Zahnes 25 wurde die Lücke durch neue, breitere Kronen am Zahn 24 und 26 geschlossen und die prothetische Behandlung beendet (Abb. 19 a–e).
Um einem möglichen nächtlichen Bruxismus als Folge der Bisserhöhung vorzubeugen, wurde eine okklusal adaptierte Knirscherschiene für den Unterkiefer hergestellt und eingegliedert. Halbjährliche Kontrollen wurden vereinbart.
Diskussion
Die kieferorthopädischen Behandlungsmöglichkeiten sind bei Patienten mit AI aufgrund der konischen Form der Zähne, der kurzen klinischen Kronen sowie des Zustandes des Zahnschmelzes begrenzt [17]. Eine prothetische Vorbehandlung mittels laborgefertigter CAD/CAM-PMMA-Langzeitprovisorien [12,16,21] könnte nicht nur das Problem der Befestigung von kieferorthopädischen Apparaturen verkleinern [11], sondern auch, wie in diesem Fall, die intraoperative Zuordnung der Kiefer ermöglichen. Der postoperative Einsatz eines Endsplintes kann so ebenfalls umgangen werden, was für den Patienten eine sehr komfortable Lösung darstellt. Die hier gewählte minimale, der Ästhetik und den zahntechnischen Materialanforderungen geschuldete Bisserhöhung wurde ebenfalls mittels der langzeitprovisorischen Kronen simuliert und vom Patienten gut adaptiert [1]. Die aus Retentionsgründen erfolgte Verblockung der Langzeitprovisorien hat die Feineinstellung der Zähne nach der Umstellungsosteotomie nicht mehr erlaubt, sodass interdental ausreichende Platzverhältnisse bereits primär bei der Ausformung der Zahnbögen berücksichtigt werden müssen. Eine kieferchirurgische Behandlung mittels Le-Fort-I-Osteotomie und Segmentosteotomie nach Obwegeser und Dal Pont stellt ein übliches Verfahren zur Behandlung von Patienten mit AI und skelettal offenem Biss dar [17,18,32].
Die Fraktur der Osteosyntheseplatte ist neben der Lockerung der Osteosyntheseschrauben eine mögliche Komplikation [33], welche bei einer klinischen Okklusionskontrolle oder durch Patientenauskunft früh bemerkt werden kann. Die, wie in diesem Fall, aufgetretene zervikale Resorption wurde häufiger bei Patienten mit AI beschrieben und wird mit der abnormalen Schmelzbildung erklärt [9,22].
Für die Wiederherstellung der Funktion und Ästhetik stehen den Patienten grundsätzlich verschiedene Optionen zur Verfügung. Die in diesem Fall gewählten Restaurationsmaterialien auf Zirkoniumdioxidbasis werden aufgrund ihrer Biokompatibilität und der guten mechanischen Eigenschaften seit Jahren erfolgreich in der Zahnmedizin eingesetzt [23]. Für die Frontzahnkronen wurde aus ästhetischen Gründen als Gerüstmaterial transluzentes CAD/ CAM-gefrästes Zirkoniumdioxid mit Verblendung verwendet. Transluzente und hochtransluzente Zirkoniumdioxidkronen können in Kombination mit einer 0,3 mm dicken Verblendschicht mit semimonolithischem Design verwendet werden, um die ästhetischen Eigenschaften von Restaurationen zu verbessern, ohne die Bruchfestigkeit der Kronen signifikant zu verringern. Wenn für eine semimonolithische Krone eine 0,5 mm dicke Verblendkeramikschicht benötigt wird, kann ein Wellen- oder Kappendesign verwendet werden, um die Bruchfestigkeit zu erhöhen. In beiden Fällen wird die gewonnene Frakturresistenz als klinisch ausreichend eingeschätzt [6]. Um das Frakturrisiko der Verblendmaterialien zu umgehen [25], wurden für die Seitenzähne monolithische CAD/CAM-konstruierte und -gefräste Zirkoniumdioxidkronen gewählt. Studien haben gezeigt, dass die monolithischen Seitenzahnversorgungen den hohen funktionalen Belastungen auch bei einem minimalen okklusalen Wiederherstellungsraum standhalten [23,26]. Präventiv wurde angenommenen möglichen Auswirkungen der hohen Härte der Seitenzahnkronen auf die Kaumuskulatur und die Kiefergelenke und einem möglichen Trigger für Parafunktionen infolge der Bissanhebung durch die Anfertigung einer okklusal adaptierten Knirscherschiene begegnet [3,24]. Nach der Eingliederung der Langzeitprovisorien sowie der definitiven Versorgung müssen intensive Mundhygieneinstruktionen, Motivationen und Kontrollen erfolgen, damit die parodontale Gesundheit, die aufgrund der Veränderung der Zahnform und der Essgewohnheiten der Patienten veränderten Einflussfaktoren unterliegt, gewahrt bleibt [7,19].
Anhand des vorliegenden Falles wurde die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit und guten Kommunikation zwischen den einzelnen Disziplinen dargestellt, welche jedoch nur mit engmaschigen Kontrollen und guter Patientenführung funktionieren kann.
Weitere Informationen:
Dr. Katarzyna Witanski (Hauptautorin); Dr. Natalie Weber; PD Dr. Anne Wolowski, Ltd. Oberärztin und Stellvertreterin der Direktorin
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