Alltägliche Erfahrungen in therapeutischer Praxis bestätigen die These, dass chronische Entzündungen als die große Epidemie des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden müssen. Die Immunantwort im Rahmen chronisch entzündlicher Prozesse hat für die Betroffenen erhebliche Konsequenzen: Dauerhafte Leistungsminderung, chronische Schmerzen und Erschöpfung sind oft gleichbedeutend mit einem zunehmenden Verlust an Lebensqualität. Neben Diabetes, Magen-Darm-Erkrankungen, chronischen Infektionen sowie rheumatischen und neurodegenerativen Erkrankungen nehmen die chronische Parodontitis und auch die Periimplantitis seit Jahren kontinuierlich an Ausmaß zu. Die konventionelle Medizin ist diagnostisch und therapeutisch fokussiert auf symptomatisch betroffene Organe. So wird die chronische Parodontitis primär als eine Erkrankung des Zahnhalteapparates verstanden, die Periimplantitis hingegen vorrangig in Abhängigkeit von Material und Design des verwendeten Implantates gesehen und beurteilt. Folgerichtig wird in der Mundhöhle diagnostiziert und therapiert. Im ganzheitlichen Verständnis von systemischer Oralmedizin stellt in vielen Fällen jedoch die Stabilisierung der Grundregulation das eigentliche Kernelement der Therapie der Erkrankungen dar: Durch Granulozytentätigkeit wird im Parodont der Betroffenen das kollagenolytische Enzym Matrixmetalloproteinase- 8 aktiviert und damit das dreidimensionale Kollagenfasernetz des Zahnhalteapparates irreversibel zerstört. Die Bestimmung der aktivierten Matrixmetalloproteinase-8 (aMMP-8 Test, Fa. dentognostics, Jena) eignet sich daher als Destruktionsmarker für den akut ablaufenden Gewebeabbau und kann zur Einschätzung der individuellen Immunkompetenz eingesetzt werden. Ein nachhaltiger Behandlungserfolg wird sich jedoch nur durch eine Veränderung des inneren Milieus mittels geeigneter Orthomolekularia, die frei von belastenden Zusatzchemikalien sind, nach vorgeschalteter oraler Milieudiagnostik erreichen lassen.
Richtet man den Blick aus der Parodontologie und der Implantologie einmal ganz bewusst auf die Innere Medizin, so wird deutlich, dass es zukünftig notwendig sein wird, Methoden in der Praxis umzusetzen, die in ihrer Gesamtheit als systemische Oralmedizin (SOM) zu bezeichnen sind. „Alles ist mit allem verknüpft“, lautet ein Kernsatz dieses Medizinverständnisses. Demnach ist die Mundhöhle keine Schachtel voller Zähne, sondern vielmehr ein Frühwarnsystem, das gut zugänglich für die Untersuchung auch anderer Gewebe und Organe ist und eine potente Quelle pathologischer Einflüsse auf andere Systeme oder Organe darstellt [1]. Die Mundhöhle kann somit genutzt werden, um systemische Primärdiagnostik zu betreiben. Ein Blick auf statistisch abgesicherte Gegebenheiten zum Mammakarzinom nach der Menopause [2] verdeutlicht die Zusammenhänge: Das Brustkrebsrisiko steigt beim Vorliegen einer Parodontitis um 14%. Eine mögliche Erklärung ist, dass die mit einer Parodontitis verbundene systemische Entzündung auf das Brustgewebe einwirkt. Die proinflammatorische Wirkung des Nikotins verstärkt diesen Effekt signifikant. In der Parodontologie gilt es daher zukünftig zu berücksichtigen, dass die chronische Entzündung nicht als lokales Geschehen zu verstehen ist, sondern sich vielmehr immer systemisch entfaltet. Parodontale Entzündungsdiagnostik ist heute auch labortechnisch machbar. Den derzeit kommerziell einzig verfügbaren Test vertreibt die Firma dentognostics; mit dem aMMP-8-Test kann die bisher ausschließlich retrospektive parodontologische Diagnostik über Taschentiefenmessung und Röntgenkontrolle sinnvoll erweitert werden. In der 2018 vorgestellten neuen Klassifikation der Parodontitis [3], basierend auf Staging und Grading, wird die Identifikation von therapierefraktären Parodontitiden künftig erwartet. Ihr kommt die allergrößte Bedeutung zu, denn es stellt sich die Frage, wie eine als Typ C einzustufende schwere Parodontitis mit schneller Progressionsrate ohne Ansprechen auf Standardtherapien zur bakteriellen Kontrolle zu beherrschen sein wird. Die Suche nach der immunologischen Ursache des parodontalen Entzündungsprozesses rückt damit in den Fokus der Betrachtung.
Die Kaskade der chronischen Entzündung
Dr. Heinz-Peter Olbertz
Aus biochemischer Sicht befindet sich der parodontal erkrankte Patient in einer Mangelsituation, die nicht zwangsläufig mit schlechter Mundhygiene verknüpft ist. Dieser Zusammenhang wurde in der Grazer Parodontitisstudie verdeutlicht und es konnte ebenso der Nachweis erbracht werden, dass die Zufuhr von Vitalstoffen in Kombination mit lebensfähigen Symbionten im Sinne einer adjuvanten systemischen Parodontitistherapie einen wirksamen Beitrag zur Sanierung des chronisch kranken Parodonts leistet [5]. Etwa 20 bis 30% aller Parodontitiden sind auf systemische Entzündungen zurückzuführen und als Ausdruck eines Mangels an Mikronährstoffen zu verstehen. So soll die Hypothese aufgestellt werden, dass man nur in diesem Kontext von einer schweren Parodontitis (Grad C) sprechen darf, und folgerichtig wären nur in dieser Gruppe die therapierefraktären Non-Responder anzusiedeln.
Beim Blickwechsel auf die zahnärztliche Implantologie stellt sich die Situation grundsätzlich ähnlich dar. Die Entzündungsprozesse laufen jedoch wesentlich schneller ab, da das osseointegrierte Implantat nicht über die querverlaufenden Strukturen eines bindegewebigen Zahnhalteapparates verfügt. Die Periimplantitis scheint ein multifaktorielles Geschehen zu sein. Die Identifikation der einzelnen Faktoren dauert an und unterliegt einem Paradigmenwechsel. Je nach Untersuchung wird die Häufigkeit von manifester Periimplantitis in Abhängigkeit vom Untersuchenden sehr unterschiedlich angegeben. Hier liegen ganz offenbar verschwimmende Begrifflichkeiten vor, denn es fehlt die klar definierte Abgrenzung zwischen periimplantärer Mukositis und Periimplantitis. Die Anwendung eines labormedizinischen Destruktionsmarkers (aMMP-8-Test) ist umso mehr erforderlich, als sowohl die klinische als auch die röntgenologische Differenzialdiagnose zwischen periimplantärer Mukositis und Periimplantitis nur retrospektiv erfolgen kann. Die frühzeitige Diagnostik ist wegen der Kürze des zur erfolgreichen Intervention zur Verfügung stehenden Zeitfensters jedoch von größter Bedeutung. Die Periimplantitis wird schlichtweg zu spät, weil klinisch retrospektiv, erkannt. Implantatdesign und auch Implantatmaterial scheinen nach derzeitigem Kenntnisstand ohne pathogenetische Bedeutung zu sein. Auch die sich zukünftig verschärfende forensische Problematik einer fehlenden präoperativen Diagnostik soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Dr. Heinz-Peter Olbertz
Tatsächlich wird der Bedarf an zusätzlichen diagnostischen Tools in der aktuellen Klassifikation durchaus geäußert [12], diese wurden bisher aber noch nicht in die Definitionen des Staging/ Grading aufgenommen. Wenn Parodontitispatienten in kurzen Abständen über einen längeren Zeitraum auf kollagenolytische Aktivität hin kontrolliert werden, können durch die Höhe der gemessenen aMMP-8-Werte Patienten mit stabilen Verhältnissen klar von denen mit refraktärem Krankheitsverlauf unterschieden werden. Die in solchen Fällen durch die Fachgesellschaften empfohlenen adjuvanten systemischen Antibiosen nach vorheriger Analyse des Keimspektrums konnten in der Vergangenheit nicht zu einer dauerhaften Stabilisierung führen [9] und werden derzeit zu Recht sehr kritisch bewertet. So steht die Parodontologie heute vor einem Paradigmenwechsel.
Parodontitis als Symptom der Silent Inflammation
Die Bedeutung der Wirtsreaktivität des Erkrankten in der Sichtweise der Regulationsmedizin wird zunehmend zum Kernpunkt der Forschung. Bakterien werden nicht mehr ausschließlich als krankmachend angesehen und zur Vernichtung freigegeben. Mehr und mehr beginnt man, deren immunologische Kompetenz zu verstehen. Hier knüpft die derzeitige Grundlagenforschung zur menschlichen Mikrobiota an Erkenntnisse an, die schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gewonnen wurden und mit Persönlichkeiten verbunden sind wie Theodor Escherich (1857–1911), Ilja Metschnikow (1845–1916) und Claude Bernard (1813–1878), der damals den zukunftsweisenden Satz formulierte: „Die Mikrobe ist nichts, das Terrain ist alles.“ Erst in jüngster Zeit beginnt die Medizin, sich diese Sichtweise zu eigen zu machen und die Mikrobiota mit ihrer evolutionär geformten Diversität immunologisch zu verstehen. Demnach kann die chronische Parodontitis nicht mehr länger als eine Erkrankung sui generis angesehen werden, sie muss vielmehr als symptomatischer Ausdruck einer Störung des Gleichgewichtes aller Körperfunktionen verstanden werden.
An dieser Stelle scheint ein kritischer Blick auf die Bedeutung bakteriologischer Testverfahren in der Parodontologie geboten. Bakterien sind eine notwendige, aber allein nicht ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung einer Parodontitis [10]. Aus diesem Grund hat die Analyse der bakteriellen Besiedelung parodontaler Taschen folgerichtig keine prognostische Bedeutung. Hier darf zu Recht von fehlender therapeutischer Relevanz gesprochen werden. Dennoch machen bakterielle Analysen Sinn, denn sie können wertvolle Informationen und einen tiefen Einblick in den Zustand der Körperfunktionen liefern. Systemische parodontale Diagnostik im Sinne einer Bernard-Terrainanalyse ist allerdings nicht in der parodontalen Tasche möglich, dies gelingt nur unter Einbeziehung der Darmmikrobiota.
Dr. Heinz-Peter Olbertz
Dr. Heinz-Peter Olbertz
Positive Studienergebnisse
Das sogenannte „Scaling & Root Planing“ (SRP) gilt im Normalfall als die klassische Behandlungsmethode bei Parodontitis und führt in der Mehrzahl der Fälle zum erwünschten Erfolg, also dem Abklingen der Entzündungszeichen sowie einer verringerten Progredienz der Erkrankung. Es stellt sich die Frage, inwieweit Patienten mit refraktärem parodontalem Entzündungsgeschehen vor dem Hintergrund einer durch die Silent Inflammation belasteten Stoffwechsellage einer erweiterten Behandlung bedürfen, welche dann jedoch nicht erneut mechanisch basiert sein sollte. Auf längere Sicht steht hier vor allem die Umstellung der Ernährung im Fokus, um nachhaltig eine Sanierung des inneren Milieus zu stabilisieren. Da parodontalpathogene Keime immer inflammophile Keime sind, ist eine erfolgreiche Parodontitistherapie ohne eine Veränderung des für diese Mikroorganismen so günstigen, weil chronisch entzündlich belasteten Terrains, nicht möglich. Eine gezielte Ernährungstherapie, um eine Balance zwischen der Entstehung einer Entzündung und deren Auflösung aufrechtzuerhalten, wird damit zum integralen Bestandteil der Parodontitistherapie [13]. Allerdings ist festzustellen, dass derzeit noch ein erheblicher Forschungsbedarf bezüglich der Pathomechanismen besteht, insbesondere bezüglich der Fragestellung, wann es einer orthomolekularen Initialtherapie bedarf, um Heilungsprozesse anzustoßen.
Dr. Heinz-Peter Olbertz
Diskussion
Sowohl zur Auswahl für die Studie geeigneter Patienten als auch zur Erfolgskontrolle der adjuvanten Prüftherapie diente die quantitative Bestimmung von aMMP-8 in der Sulkusfluid als Prüfparameter. Dieses Enzym, dass das Kollagennetzwerk des Parodonts zerstört, lag zu Beginn der Untersuchung bei 100% der Patienten im Gefährdungsbereich, wurde im Therapieverlauf wesentlich vermindert und befand sich bei ungefähr 50% der Patienten nach Abschluss der Therapie im gesunden Bereich. Die Mittelwerte der Sondierungstiefen zeigten eine nur sehr geringe, nicht signifikante Veränderung durch die Prüftherapie. Es ist davon auszugehen, dass die langfristig angelegte adjuvante Prüftherapie mit komplexen Orthomolekularia zu einer statistisch signifikanten Verbesserung der parodontalen Situation führt. Offenbar wird eine Heilungsphase angestoßen, welche sich bei den Patienten durch sehr unterschiedliche aMMP-8-Niveaus äußert. Erst im weiteren Verlauf der Studie stellten sich 2 Reaktionsmuster der Teilnehmer heraus. Dies ist als Zeichen für individuell sehr unterschiedliche Reaktionslagen der Patienten zu werten. Zwischenzeitlich führte die Prüftherapie in einzelnen Fällen sogar zu einer erheblichen Verschlechterung des Prüfwertes. Regulationsmedizinisch können diese Ausschläge als Ausdruck der Veränderung des Entzündungsgeschehens verstanden werden: Aus einer chronischen Entzündung entwickelt sich durch die verbesserte Stoffwechsellage eine akute Entzündung und nur diese kann schließlich zur Ausheilung gebracht werden. Das akute Aufflammen der chronischen Erkrankung – in der Medizin bereits seit Jahrhunderten als Krisis bezeichnet – wird in vielen naturheilkundlichen Verfahren als sogenannte Erstverschlimmerung und damit als das untrügliche Zeichen eines einsetzenden Heilungsprozesses verstanden.
Die dank der Prüftherapie erreichte Unterstützung der immunologischen Abwehrleistung des Wirtsorganismus führte letztlich zu einer statistisch signifikanten Verbesserung des kollagenolytischen Abbaus. Auch bei allen weiteren zum Zeitpunkt ihres Studienendes noch therapierefraktären Patienten waren die aMMP-8-Werte als Hinweis auf einen verringerten parodontalen Gewebeabbau deutlich gesunken. Aufgrund der auch bei diesen Patienten abfallenden aMMP-8-Werte wäre nach einer umfassenden Erhebung der Ernährungsgewohnheiten von Beginn an eine Fortführung der Substitution im Rahmen der Studie um 2 bis 3 Monate wünschenswert gewesen.
Fazit
Moderne Ernährung mit Fast Food, stark überhöhtem Anteil an niedermolekularen Kohlenhydraten, E-Stoffen, technischen Hilfsstoffen, Lösungs- und Trennmitteln, Rieselhilfen, Enzymen und noch vielen weiteren, teilweise nicht deklarationspflichtigen versteckten Stoffen, ist neben Umweltbelastungen, Stress und Bewegungsmangel die zentrale Ursache der durch Silent Inflammation bedingten Parodontitis. Diese zivilisatorische Erkrankung geht einher mit beschleunigten Alterungsprozessen im Gesamtorganismus. Durch ökologische Frischkost ohne Zusatzstoffe, eine ausreichende Trinkmenge von mindestens 2 Litern reinen Wassers pro Tag und optimale Vitamin-Mineralstoffversorgung kann chronischen Entzündungen vorgebeugt werden. Unterstützend wirken ausreichend Schlaf, Stressmanagement, Bewegung an frischer Luft und Entspannungstechniken, wie z.B. autogenes Training. Der aMMP-8 Test stellt aus oralmedizinischer Sicht ein hervorragendes Instrument zur Frühdiagnostik dar. Mit der adjuvanten Zufuhr von hypoallergenen Mikronährstoffen scheinen Heilungsprozesse angestoßen zu werden, die eine nachhaltige parodontale sowie periimplantäre Stabilisierung zur Folge haben.
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